Newsletter Herbst 2023 – Auf die Probleme in der Dreirosenanlage kann es keine einfachen Antworten geben

Wir wissen, dass hier auch repressive Massnahmen notwendig sind, aber die Leute von JuAr Basel, die im Kopf der Dreirosen arbeiten, setzen auf Kommunikation, auf Dialog und behalten das grosse Bild hinter den Problemen im Auge. Das ist keine geringere Leistung, denn es braucht sehr viel Geduld, Frustrationstoleranz und eine dicke Haut. Wie unsere Mitarbeitenden ihre Werte erhalten, während sie eine fast unerträgliche Situation aushalten, seit vielen Jahren, ist schlicht bewundernswert.

Spitzen brechen, doch der Alltag bleibt schwierig

Die Kameras hängen seit einiger Zeit und filmen die Anlage von oben. Eine erste Bilanz der Polizei ergibt, dass weniger schwere Gewaltdelikte verübt worden seien, das Dealen und die Kleinkriminalität würden allerdings weiterhin Probleme verursachen. Für die Polizei bleibe die Anlage weiterhin im Fokus. Die Teams von JuAr Basel arbeiten auf Bodenhöhe: Im Kleinbasler Kopf der Dreirosenbrücke, hier befinden sich die Freizeithalle, das Jugendzentrum und das RiiBistro. Sie pflegen ein gutes, offenes Verhältnis zur Polizei, eine Partnerschaft, die auch kritische Diskussionen aushält. Die Polizei ist meistens sehr schnell zur Stelle, um Gewaltspitzen zu brechen und aufzufangen. Doch es sind die zermürbenden Szenen und Ereignisse des Alltags, die den Leuten von JuAr Basel hier an die Substanz gehen.

Kalte Jahreszeit als Prüfstein

Marc Moresi, Leiter der Freizeithalle und künftiger Co-Geschäftsführer von JuAr Basel, steht am Rand der Anlage, an einem der letzten warmen Tage, langsam zieht der Herbst ins Land: «Jetzt kommt die Zeit, in der sich zeigen wird, ob die Kameras etwas bringen. In der warmen Jahreszeit ist hier eine sehr diverse Kundschaft unterwegs, wenn es aber kalt wird, bleiben vornehmlich die Gruppen, die Probleme haben und verursachen auf der Anlage. Weil sie der Treffpunkt dieser Leute geworden ist, weil viele von ihnen keinen anderen Ort haben, an dem sie den Tag verbringen können, weil hier Kundschaft und Deal aufeinandertreffen. Unsere Angebote werden im Herbst und Winter sehr gut genutzt, sie ziehen Jugendliche, Kinder, Familien an. Gleichzeitig rücken auch die schwierigeren Nutzenden der Anlage näher ans Haus, ins Trockene, was ja verständlich ist. Wenn die Kälte kam, dann ist für uns in den letzten Jahren immer die schwierigste Zeit angebrochen.»

Jene Spannung über der Szenerie

Was bringt der Alltag in der Anlage denn an Zumutungen und Schwierigkeiten? Offen wird hier Kokain konsumiert und gedealt, es wird gesoffen und gekifft, Streitigkeiten werden ausgetragen, auch mit Gewalt, Frauen und Mädchen werden belästigt, darunter ganz junge Teenager. Wenn die Eltern es erfahren, zögern sie oft, Anzeige zu erstatten. Weil sie und ihre Kinder täglich hier verkehren, die Angst Zielscheibe von Aggressionen aus den Reihen der rumhängenden Gruppen zu werden, ist spürbar. Auch Diebstähle gehören zum Alltag, Velos, E-Trottis, Handys, alles muss immer besonders gut gesichert, im Auge behalten werden. Es liegt immer jene Spannung über der Szenerie. Wer hier arbeitet, wird davon beeinflusst, dasselbe gilt für Jugendliche, die rund um unsere Angebote aufwachsen. Für Basler Verhältnisse stellt die komplexe Problemlage, welche sich auf dieser Anlage manifestiert, eine neue Dimension dar. Betrachtet man sie aus dem Blickwinkel von Leuten, die in Berlin, Lyon oder Memphis, Tennessee, wohnen, sieht sie eher harmlos aus.

Doch darf man, wenn man so relativiert, eine ganz banale Tatsache nicht vergessen: Wir verfügen im Kanton Basel-Stadt über eine Nutzfläche von nicht ganz 40 Quadratkilometern, dicht bewohnt, gerade im nördlichen Kleinbasel, kulturell enorm durchmischt. Ghetto-Situationen können wir uns eigentlich gar nicht erlauben. Friedliche Ko-Existenz kann die einzige tragfähige Lösung sein. Und dafür braucht es Kommunikation und Dialog, mit allen involvierten Gruppen, speziell mit jenen, die stören.

Sensationelle Schlagzeilen und überzogene Repressions- und Strafforderungen, die keine Chance auf Umsetzung haben, nützen vor Ort im Alltag halt gar nichts. Eine Stigmatisierung der problematischen Gruppen verschärft die Missstände lediglich.  JuAr Basel agiert in dieser Sache klar auf der Dialogseite, wenn nötig konfrontativ, im besten Fall entspannt, aber immer mit Respekt vor dem anderen Menschen, dem Gegenüber. Doch wer ist dieses Gegenüber?

Keinen Anschluss, keine Familie, kein Recht auf Arbeit

Es sind Gruppen von jungen Männern unterschiedlicher Nationalitäten, einige von ihnen sind noch sehr jung, viele von ihnen sind alleine hierhergekommen, haben hier keinen Anschluss, keine Familie, keine Chance auf Arbeit. Die Herkunftsländer dieser Männer haben sich, in all den Jahren, während denen die Missstände in der Anlage sich entwickelt haben (Ansätze gab es seit 2007), immer wieder verändert. Damit veränderten sich jeweils auch die Topografie der möglichen kulturellen Missverständnisse und gegenseitigen Abneigungen, die Konfliktfronten im Drogenhandel, die psychischen Verfassungen der Männer.

Momentan handelt es sich vor allem um Menschen aus Afrika, darunter tendenziell islamische Nordafrikaner, die hier keine Chance auf Asyl haben, und tendenziell eher christliche Gruppen aus West- und Zentralafrika, praktisch alle stammen aus ehemaligen europäischen Kolonien. Kulturelles Konfliktpotential unter den genannten Gruppen, ist gegeben.

Die Mitarbeitenden von JuAr Basel versuchen, wenn immer möglich, Beziehungen zu diesen Menschen aufzubauen, so viele Kenntnisse, wie möglich, über deren Lebenssituationen zu erwerben, ihnen die Regeln des Zusammenlebens auf der Anlage und in der Schweiz zu vermitteln, kritische Situationen zu moderieren. Und sie zögern nicht, die Polizei zu rufen, wenn es brennt.

Sozialer Zündstoff

Aber es ist halt viel sozialer Zündstoff vorhanden, viele der Männer, die hier gestrandet sind, haben grauenhafte Dinge erlebt, Kriege, Bürgerkriege, bittere Armut. Danach waren sie Monate oder sogar Jahre auf Fluchtrouten unterwegs, mit einem Traum von Europa im Kopf, auf den gleich bei der Ankunft niederschmetternde Enttäuschungen folgen. Sowie die Erkenntnis, wie weit der Weg eines geflüchteten Menschen zum erträumten Einkommen, dem Auto, der Wohnung in Europa ist.

Sie sind hier gestrandet, wir können (und wollen) nichts mit ihnen anfangen, können ihnen keine Arbeit, keine Existenzgrundlagen bieten und lassen sie das spüren. Einige von ihnen haben von ihren Familien viel Geld für die illegale und gefährliche Reise erhalten, quasi als Investition, und es wird erwartet, dass nun regelmässig etwas Substantielles zurückkommt, andere haben in Kriegen gekämpft…

Verletzte Menschen

Wir haben es hier in vielen Fällen mit verletzten Menschen zu tun, denen letztlich nichts anderes übrigbleibt, als sich illegal zu betätigen. Gleichzeitig konsumieren sie oft Drogen, um all die Demütigungen und Niederlagen zu verdrängen, die sie erlebt haben. Der Drogenhandel hat seine genauso massgeschneiderten wie grausamen Strukturen, in die diese Männer – sowohl als Dealer als auch als Konsumenten – bestens hineinpassen. Und jemand mit einer derartigen Biografie muss sehr stark sein, um diesem System zu entkommen. Was meinen Sie, wären Sie stark genug?

Und, wir wollen uns keine Illusionen machen, wenn wir alle Drogen legalisieren würden, dann wären es andere illegale Aktivitäten, die auf diesem Boden wachsen könnten, die womöglich noch weitaus dramatischere Folgen hätten, als das Dealen. Tatsache ist, diese Leute sind hier – und wir bieten ihnen nichts Niederschwelliges an. Da gibt es keine spezialisierte aufsuchende Sozialarbeit, die mit den notwendigen Mitteln ausgestattet ist, um einen spürbaren Unterschied zu machen, es gibt keine organisierten Treffpunkte oder Lokale für diese Menschen. Bei diesen Leuten versagt die Integrationspolitik unserer Stadt, unseres Landes ganz offensichtlich. Da ist einfach kein Budget vorhanden. Dabei würden wir uns doch nur selber helfen, wenn wir ihre Situation verbessern. Denn die Situation ist so unerträglich, weil sie auf beiden Seiten Opfer produziert.

integrationspolitische Massnahmen

Deshalb setzen die Teams von JuAr Basel im Brückenkopf im Umgang mit diesen Problemgruppen auf Kommunikation und Dialog, es geht ja gar nicht anders. Sie machen das, weil sie es tun müssen, als Anlieger und Profis, die auf unterschiedlichen Feldern der sozialen Arbeit wirken. Aber ihnen wird dadurch auch Zeit gestohlen, die sie eigentlich lieber für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen einsetzen würden, für die sie arbeiten, die es hier im nördlichen Kleinbasel auch nicht alle einfach haben. Wir können die komplexen Probleme in dieser Anlage nicht lösen, weil unser Fokus auf der Jugendarbeit liegt, die Polizei kann sie mit ihren Mitteln nicht lösen, weil Repression alleine nicht reicht, das Ranger-Konzept ist zwar diskutabel, aber viel zu klein angerichtet und gedacht. Es braucht hier eine weitere Kraft, es braucht durchdachte und flexible integrationspolitische Massnahmen, mit geschultem Personal und Entscheidungskompetenzen ausgestattet.

Auch wenn hier, in den Quartieren um die Dreirosenbrücke, in vier oder fünf Jahren massive Bauarbeiten beginnen, welche die Gegebenheiten verändern, muss diese soziale Problematik angepackt werden, denn sie wird uns so schnell nicht verlassen – und je länger wir abwarten, desto schwerwiegender werden sich die Probleme entwickeln.

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