Newsletter Herbst 2023 – Sieben oder acht Jugendberatungsprofis, mit Büros an zentraler Lage, wären für Basel-Stadt wohl angemessen

Zweiköpfiges Team, happige bis haarsträubende Fälle, lange Wartelisten, verzweifeltes Ringen um ein höheres Budget. Das war für sehr lange Zeit die Realität der Jugendberatung von JuAr Basel, einem Angebot, das niederschwellig, vertraulich, kostenlos agiert. Nun sind aus zwei Mitarbeitenden vier geworden, zwei neue Projektebenen – das «Care Leaver-Projekt» und «Catching Fire» – sind entstanden, das Verhältnis zur Abteilung Jugendhilfe des Erziehungsdepartements ist produktiv, Zusammenarbeit und Kommunikation mit Gesundheitsdepartement und Sozialhilfe haben sich gefestigt. So weit, so gut.

Psychosoziale Beratung läuft auf Hochtouren

Gleichzeitig funktioniert unsere Jugendberatung wie eine Sonde, sie akkumuliert durch ihre Tätigkeit ständig Wissen, erkennt Trends, leuchtet Abgründe aus. Dabei wird klar, dass auch dieses vergrösserte Team – allerdings kümmert sich eine Person ausschliesslich um «Catching Fire – den tatsächlichen und wachsenden Bedarf nach psychosozialer Beratung junger Menschen in unserer Stadt keineswegs abdecken kann.

Christoph Walter, Leiter Jugendberatung

Christoph Walter, Leiter der Jugendberatung und Dienstältester des Teams, erklärt: «Unser Kerngeschäft, also die psychosoziale Beratung, läuft nach wie vor auf Hochtouren. Das hat auch bereits vor Corona zugenommen. Die Pandemie-Gelder des Gesundheitsdepartements fliessen nun zwar nicht mehr, doch der Trend hält an. Und obwohl wir inzwischen über grössere Beratungsressourcen verfügen, führen wir weiterhin eine Warteliste für Ratsuchende, viele davon mit dringenden Anliegen.»

Das Thema psychosoziale Beratung ist eng mit zwei weiteren Themen verknüpft. Erstens: Bei vielen jungen Ratsuchenden liegen komplexe Mehrfachproblematiken vor. Zweitens: Die demographischen Veränderungen machen sich stark bemerkbar. Christoph: «Alleine die demographische Entwicklung – dazu gehören das Bevölkerungswachstum sowie die kulturelle und die soziale Durchmischung unserer Gesellschaft – weist darauf hin, dass Jugendliche und junge Erwachsene zunehmend Beratungsbedarf haben. Das ist nicht einfach ein Peak, eine Spitze, die wir jetzt erleben, der Bedarf wird anhalten und sogar noch steigen.»

Recht auf Information

Walters Team-Kollegin Bernadette Schaffner fügt hinzu: «Nebst den demographischen Entwicklungen spielen hier auch die generationellen Veränderungen eine grosse Rolle. Es ist nun eine Jugend herangewachsen, die ihr Recht auf Information in Anspruch nehmen will, die fragt: ‘Hey, warum muss ich mit 17 selber herausfinden, wie man die Steuererklärung ausfüllt und wie das mit der Krankenkasse funktioniert?’ Leider können wir heute nicht mehr davon ausgehen, dass dieses Wissen den Jugendlichen vom Elternhaus mitgegeben wird. Auch bei jungen Menschen, die Heimstrukturen verlassen, gibt es immer wieder Betreuungs-Lücken.»

Bernadette Schaffner, Mitarbeiterin Jugendberatung

Beide Sozialarbeitsprofis sind sich einig, dass es heute in der Kernfamilie sehr oft an ganz grundsätzlichem Wissen über finanzielle und amtliche Fragen mangle. Denn auch die Eltern ihrer Klient*innen seien häufig mit diesen Themen überfordert. Die Erwachsenen würden selber an Grenzen stossen, weil alles so kompliziert geworden sei.

Diese abwartende Haltung, diese Überforderungssituation

Christoph sagt: «Wir können durchaus eine Überforderung der Institution Familie feststellen, welche eine Überforderung der Gesellschaft im weitesten Sinne spiegelt. Existenzängste, Zukunftsängste, Ängste vor sozialem Abstieg, spielen heute bei Jugendlichen und bei Erwachsenen eine fatale Rolle. Ein Teil unserer Klientel trägt die Probleme ihrer Eltern weiter durchs Leben, anderen gelingt es, sie aufzulösen. Dazu können wir unseren Beitrag leisten. Wir stellen gerade bei vielen jungen Erwachsenen eine Überforderung fest, wenn es um Ausbildung geht, um Stipendien und weitere kantonale Leistungen, um die Wohnungssuche. Viele Jugendliche wollen ausziehen, aber sie können nicht. Das hört nicht einfach mit dem Erreichen des Erwachsenenalters auf…»

Bernadette fügt hinzu: «Es ist wissenschaftlich schon längst erwiesen, dass diese traditionellen Übergänge verschwinden. Die Jugenddefinition ‘bis 25’ ist klar angemessen, das zeigen auch die Erfahrungen aus unserem Arbeitsalltag.» Christoph: «Heute können wir sagen: was für Jugendliche, die in Heimstrukturen aufgewachsen sind, also unsere Care Leavers, in Extremform gilt, gilt auch für viele Jugendliche, die im Elternhaus aufgewachsen sind. Diese abwartende Haltung, diese Überforderungssituation sind Symptome unserer Zeit, unserer Gesellschaft.»

Der reale Bedarf nach niederschwelliger psychosozialer Beratung verschwindet eben mit der Volljährigkeit nicht auf magische Weise.

Sieben oder acht Berater*innen wären durchaus angemessen

Das Erwachsenwerden zögert sich heutzutage hinaus, gerade auch durch Ausbildungen. Andauernde Abhängigkeit junger Menschen vom Elternhaus, von Stipendien, Arbeitslosenkasse oder Sozialhilfe sind häufig geworden – so sehen die Themen aus, die junge Erwachsene heute fordern und überfordern.

Manchmal hängt so viel von einem einzigen Telefon an die richtige Adresse (die man erst mal kennen muss), vom korrekten Ausfüllen von Formularen, vom Stellen des richtigen Antrags, vom Wissen über die eigenen Rechte ab. Gerade in solchen Fällen kann unsere niederschwellige Jugendberatung den entscheidenden Unterschied machen, auch kann sie auffangen, triagieren, vermitteln.

Die steigenden Zahlen weisen klar den grossen Bedarf aus.

Eigentlich sollte eine Stadt in der Grösse von Basel unsere Jugendberatung mit ihrem enormen Wissen, ihrer grossen Erfahrung, ihrem umfangreichen Netzwerk noch deutlicher fördern. Der Erkenntnis entsprechend, dass JuAr Basel hier an einer sensiblen Schnittstelle agiert, in einem gewissen Sinne halt auch an einer Schnittstelle zwischen den Departementen Erziehung, Gesundheit, Soziales? Unser Beratungsteam agiert auf allen Ebenen. Dies zeigen auch die beiden neuen Projekte beispielhaft auf.

Wir von JuAr Basel meinen, wenn wir den zunehmenden Bedarf anschauen, dass sieben oder acht Berater*innen sowie ein Büro an zentraler Lage für die Jugendberatung durchaus angemessen wären. Dann könnte das Angebot auch so richtig Werbung für sich machen, wegen der personellen Unterbesetzung und der Warteliste haben wir es lange Zeit nicht getan. Heute tun wir es, aber halt nicht in aller Breite.

Fokus: «Care Leavers»

Die Sozialarbeiterin Madeleine Forrer betreut das «Cares Leavers»-Projekt der Jugendberatung, das im Zeichen interinstitutioneller Zusammenarbeit steht. Schliesslich geht es um junge Menschen, die in Heimstrukturen leben, diese bald verlassen werden oder bereits verlassen haben. Zudem übernimmt Madeleine auch Fälle der Jugendberatung. Das Projekt steckt in dieser Form gerade in den Anfängen. Zwar hat die Jugendberatung schon vorher mit dieser Klientel gearbeitet, doch JuAr Basel hat von der Abteilung Jugendhilfe des Erziehungsdepartements nun gezielt den Auftrag, sich um diese jungen Erwachsenen zu kümmern.

Madeleine Forrer, Verantwortliche Projekt „Care Leaver“

Heimaustritt – und dann passiert einfach nichts

Madeleine berichtet: «Zunächst geht es natürlich darum, Informationen zu sammeln und Fragen zu klären. Wie sieht der Stand der Nachbetreuung, der Nachsorge in Heimen und Institutionen aus? Wo liegt der Verbesserungsbedarf? Wie niederschwellig ist der Zugang für die «Care Leavers» zu Beratungsangeboten? Es hat sich in letzter Zeit ja diesbezüglich auch politisch einiges getan. Es gibt nun ein Nachbetreuungskonzept, Jugendliche die aus Wohnheimen und Pflegefamilien austreten, dürfen danach in einem bestimmten Mass Begleitung beanspruchen. Aber in der Umsetzung gibt es noch viel zu tun. Ich habe mich nun intensiv mit den Teams von Wohnheimen und mit Pflegefamilien ausgetauscht. Leider hat sich die Vermutung bestätigt, dass nach dem Austritt von Jugendlichen aus solchen Institutionen oft viel zu wenig passiert.»

Tief im Schlamassel stecken

Es gäbe Jugendliche, die in ihrer Heim-Zeit eine solide Berufsausbildung absolvieren und dadurch einen guten Weg finden, auch Jugendliche im Massnahmenvollzug würden in der Regel ziemlich gut auf den Austritt vorbereitet, in einem recht eng getakteten Setting. Madeleine erzählt: «Aber es gibt eben auch viele, und mit denen bekommt es die Jugendberatung oft zu tun, die einfach austreten, den Kontakt verlieren und nach ein, zwei Jahren tief im Schlamassel stecken, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen könne, weil sie nicht wissen, dass sie Ergänzungsleistungen zugute haben, weil sie die Steuererklärung nicht abgeben, manchmal ist das wirklich ein Abgrund.»

Natürlich seien viele dieser Jugendlichen der Betreuung, nach langer Heim-Zeit, überdrüssig. Sie sind schliesslich mit einem engen Netz von Regeln aufgewachsen, enger als dies in den meisten Familien der Fall ist. Diesen Freiheitsdrang müsse man, so Madeleine, eben auch respektieren und akzeptieren. Deshalb geht es beim «Care Leaver»-Projekt eben nicht um verordnete Beratung, sondern um ein Angebot, das freiwillig in Anspruch genommen werden kann – was dann wieder ganz dem Stil der Offenen Jugendarbeit, Marke JuAr Basel entspricht. Madeleine stellt klar: «Bei uns kann man nicht zuweisen, wir fragen unsere Klientel immer, ob sie das auch wirklich wollen.»

Zudem schaut die Sozialarbeiterin auch am Abend in Wohnheimen vorbei,  um die Jugendlichen über wichtige Themen zu informieren. Sie macht also Einzelberatungen, arbeitet aber auch mit Gruppen. Zudem steht sie im engen Austausch mit dem «Care Leaver Netzwerk Region Basel», coacht und begleitet die ehrenamtliche tätigen Care Leaver der Interessensvertretung. Das Care Leaver Projekt der Jugendberatung Basel ist momentan in der Pionierphase, wir sind gespannt auf die Erfahrungen und Erkenntnisse, die es bringen wird.

Fokus: «Catching Fire»

«Catching Fire» ist ein junges Projekt. Angefangen hat es vor zwei Jahren als Pilotprojekt der Präventionsabteilung des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt. Nach der Pilotphase ist es anfangs dieses Jahr von unserer Jugendberatung übernommen worden. Mit dem Projekt kam auch Irina Bischof in unsere Räumlichkeiten im Waisenhaus, sie hat einen Masterabschluss in Sport, Bewegung und Gesundheit: «Ich wollte ursprünglich Lehrerin werden und bin dann ins Gesundheitsdepartement hineingerutscht, ich unterrichte also nicht mehr.»

Irina Bischof, Verantwortliche Projekt „Catching Fire“

Bei «Catching Fire» steht die Betreuung Jugendlicher in ihrer Freizeitgestaltung im Vordergrund, ein Metier,  bei dem bei JuAr Basel natürlich grosses Wissen und beträchtliche Erfahrung vorhanden sind. Irina: «Wir unterstützen Jugendliche, die keine Hobbies haben, obwohl sie eigentlich möchten, und ihre Freizeit oft alleine verbringen. Momentan sind dies vor allem Leute, die neu in der Schweiz sind, die hier den Anschluss noch nicht gefunden haben, die auch keine Angebote oder Vereine kennen, an denen sie teilhaben können. Das sind einerseits UMA, also unbegleitete junge Menschen mit Migrationshintergrund. Andererseits solche, die mit ihrer Familie in die Schweiz gekommen sind. Was natürlich eine komplett andere Ausgangslage ist.

Irgendwie geht es immer

Irina: «Ich bekomme es hier mit vielen verschiedenen Sprach- und Kulturwelten zu tun. Das macht die Sache nur noch interessanter. Ich hatte zum Beispiel eine junge Frau aus der Ukraine in der Beratung, die aber kein Wort Englisch konnte. Sie hat also ihren Papa als Dolmetscher mitgebracht. Der konnte ein wenig Spanisch, ich auch. So haben wir uns verständigt. Irgendwie geht es immer.» Irina hat am Anfang unverzüglich damit begonnen, eine Datenbank mit Freizeitangeboten anzulegen: «Es ist schon toll, was es da in Basel alles gibt. Wenn man sich intensiv damit befasst, kommt man direkt ins Staunen. Sport aller Art, Musik, Chöre, Ateliers, das ist wirklich eine weite Landschaft. Ich konnte eine junge Ukrainerin, die unbedingt singen wollte an die Mädchenkantorei vermitteln, jetzt hat sie gerade ihr erstes Konzert in der Martinskirche. Ich konnte ihr helfen, den Anschluss zu finden. Das ist für mich eine schöne kleine Erfolgsgeschichte.»

An die Gründerzeit anknüpfen

Für Jugendliche, die über geringe Mittel Verfügung, versucht Irina bei Vereinen und anderen Angeboten Rabatte auszuhandeln oder sie stellt ein Stiftungsgesuch. Das Projekt fusst auf Eins-zu-Eins-Betreuung und passt bestens ins Sortiment der JuAr Basel, die ja einst «Basler Freizeitaktion» hiess. Da werden sich künftig wohl noch viele nützliche Synergien ergeben. Lustig ist, dass «Catching Fire» wieder an die Gründerzeit unserer Jugendberatung anknüpft. Als diese nämlich vor Jahrzehnten ins Leben gerufen wurde, war es ihr zentraler Auftrag, Jugendliche über Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu beraten. Bevor dann im Laufe der Zeit die Drogen, die Teenagerschwangerschaften, die Schuldenproblematik, die komplexen psychosozialen Mehrfachproblematiken auf den Plan rückten.

Wie hiess doch gleich dieser Film aus den 1980er Jahren? Ah ja, «Zurück in die Zukunft», das passiert auch bei JuAr Basel, manchmal.

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